WOLF D. PRIX 75: „WENN ICH STEHEN BLEIBE, BIN ICH TOT“
Im Interview anlässlich seines 75. Geburtstags spricht Wolf D. Prix über Architektur, Geschmack und Ästhetik, die Arbeit am PANEUM und warum er Architekt wurde.
Sie sind ein weltweit angesehener Architekt. Was ist Architektur für Sie?
Wolf D. Prix: Ein Bauwerk ist nicht a priori – also von Anfang an oder am Ende – als Architektur zu bezeichnen. Wenn ein Gebäude nicht in irgendeiner Weise eine Metaebene erreicht, also einen philosophischen, konzeptionellen, innovativen Hintergrund hat, auf welcher Ebene auch immer – sei es in der Form, sei es in der Organisation des Gebäudes, sei es im Material oder in der Bauweise –, dann ist und bleibt es ein Bauwerk. Je mehr diese Ebenen durchgespielt werden im fertig gestellten Gebäude, umso mehr kann man es als Architektur bezeichnen.
... und die Aufgabe des Architekten ist dann diese Metaebene?
Ja, die Aufgabe wäre es. Aber es gibt viele Zwänge in der Bauindustrie, beispielsweise vom Auftraggeber ausgehend, von den Baunormen sowie den Gesetzen und Vorschriften. Die wollen oft nicht zulassen, was ich gerade erwähnt habe.
Dieser Anspruch an Architektur gilt für alle Gebäude, zum Beispiel auch für eine Bäckerei?
Ja sicher, überall. Wenn ein Architekt, der sich seiner Verantwortung bewusst ist, das Gebäude entwirft, muss er zumindest auf einer dieser Ebenen versuchen, soweit wie möglich zu kommen. Aber damit es keine Missverständnisse gibt: Wenn eine Bäckerei Brot verkauft, muss sie das trotz all dieser Metaebenen tun. Und wenn es gute Architektur ist, wird sie sogar mehr Brot verkaufen.
Wie war das beim PANEUM?
Bei unserer ersten Begegnung hat mir der Gründer des PANEUM, Peter Augendopler, sehr intensiv von seinem Vorhaben erzählt. Das hat mich sofort an die Wunderkammer erinnert. Da gibt es ein Bild der Wunderkammer, wo am Fußboden, an den Wänden, sogar an den Decken alles vollgeräumt und ausgestellt war. Manchmal erinnert mich das an Kataloge, die es heute noch gibt, wo man Kraut und Rüben durcheinander mischt. Ich habe noch keinen gesehen, der das weggelegt hat. Sondern man stöbert darin, um etwas Interessantes zu finden. So habe ich zu Herrn Augendopler gesagt: „Was ich für Sie machen kann, ist eine Wunderkammer.“ Von dem Moment an waren wir uns einig.
Architekt und Auftraggeber auf einer Wellenlänge?
Nur wenn Auftraggeber und Architekt zusammenspielen, kann Architektur entstehen. Ich habe fast nie einen so intensiven, optimistischen und vertrauensvollen Auftraggeber erlebt wie Peter Augendopler. Dementsprechend optimistisch, intensiv und anders ist das Gebäude geworden.
Finden Sie diese Situation oft vor?
Selten, sehr selten. Ich kann Ihnen sagen, warum das so ist. Bei Großaufträgen entscheiden meist Gremien und nur selten nur ein Auftraggeber, der sich dafür einsetzt und der begeistert davon ist, dass er mit dem Architekten gemeinsam das Bauwerk gestalten kann. Das halte ich für einen Fehler und einen großen Schaden für die so genannte Baukultur.
Zurück zur Wunderkammer des Brotes …
Die Wunderkammer wurde als ein Raum entworfen, in dem man überall etwas zu sehen hat. Die Vorstellung war, um die Ausstellungsobjekte herum eine ganz spezifische Atmosphäre zu schaffen. Nicht klinisch weiß, sondern fast wie in der Arche Noah, in einer Schiffsbauweise.
War der ursprüngliche Gedanke, dass die Form einen Teig oder Brot darstellt?
Nein, überhaupt nicht. Aber dass es von manchen Betrachtern so interpretiert wird, finde ich okay. Ich schätze nichts mehr als Spitznamen für unsere Gebäude. Das zeigt, dass man sich damit identifizieren kann.
Ist Ihnen wichtig, dass die Menschen in Ihrer Architektur etwas erkennen? Ist das Ihre Intention?
Nein. Wichtig ist allerdings, dass die Leute ein Gebäude benennen können. Das dient als Identifikation für die Leute, die in der Umgebung wohnen, sei es in der Stadt oder auf dem Land. Im Prinzip geht es darum, dass man identifizierbare Gebäude schafft.
Die örtliche Feuerwehr wollte zum Beispiel ein neues Feuerwehrauto vor dem PANEUM fotografieren lassen …
Ja, so etwas passiert uns sehr oft. Ich bin froh, dass es nicht auf Ablehnung stößt. Neue Formen, die eine neue Ästhetik als Metaebene dahinter haben, stoßen wie alles Fremde zunächst auf Widerstand. Das kennen wir zur Genüge. Das kann man auch in der menschlichen Bezugsebene ständig sehen. Wenn man sich aber gewöhnt hat, ist es oft eine Bereicherung für den Bezirk und für die Kultur.
Würden Sie sich mehr solcher Projekte wünschen?
Ich würde gerne in Österreich und nicht nur in Los Angeles eine Universität, eine Kunstschule, eine Schule oder einen Kindergarten bauen. Räume schaffen, in denen das unbewusste Wohlfühlen zum Tragen kommt. Das ist das Wichtige. Ich baue auch gerne Büros, in denen Menschen Spaß an der Arbeit haben. All das. Im Übrigen muss ich sagen, dass alle unsere gebauten Projekte beim Publikum sehr gut ankommen.
Das ist dann auch nachhaltig …
Ja, auch dahingehend: Wenn alles auf einen Blick sofort verständlich ist, vergisst man es nach fünf Jahren. Wenn aber Differenzierungen und Kontraste da sind, muss man sich damit etwas mehr beschäftigen und man behält es daher länger im Gedächtnis. Im besten Fall natürlich sehr sehr lange.
Nachhaltig sind auch die Materialien, die wir beim PANEUM eingesetzt haben. Die Edelstahlschindeln könnte man wieder verwenden, den Beton zerkleinert ebenfalls und Holz sowieso. Das wird gerne vergessen: Beton, Stahl und Glas sind – richtig verwertet – durchaus nachhaltige Produkte. Nicht nur Holz, Lehm oder Gras. Diese Baustoffe sind auch deshalb ein Vorteil, weil sie eine höhere Lebensdauer haben als Lehmbauten.
Wie reiht sich das PANEUM in Ihre vielen Arbeiten ein? Welchen Stellenwert hat es für Sie?
Das kann ich Ihnen genau sagen. Zunächst ist für mich immer das aktuelle bzw. das nächste Projekt das interessanteste. Das PANEUM umso mehr, weil die Intensität, mit der es geplant und gebaut worden ist, sehr selten vorkommt. Ich stelle es gerne in Zusammenhang mit unseren großen Projekten. Es gibt keinen Unterschied, ob es jetzt 1000 m², 40.000 m² oder 80.000 m² hat. Die Intention ist bei uns immer und überall dieselbe. Das sehen und spüren die Leute auch. Nicht umsonst hat die BMW Welt Millionen Besucher, weil es keine museale langweilige Stimmung gibt, sondern weil es auch ein Informationsgebäude ist.
Eine Frage, die Ihnen bestimmt schon oft gestellt wurde: Miles Davis hat gesagt, es gibt nur zwei Arten von Musik – gute und schlechte ...
… richtig.
Ist das in der Architektur genauso?
Ja, das unterschreibe ich auch für die Architektur. Ich würde ihm folgen und sagen: Es gibt in der Architektur zwei Arten – gute und schlechte, nur schlechte Architektur ist dann keine Architektur mehr. Das heißt, es gibt nur eine Architektur.
Beim Brot sprechen zunächst Form und Aussehen an. Erst danach kommen Duft, Textur und Geschmack ins Spiel. Letzterer entscheidet aber über den Erfolg eines Bäckereiprodukts. Ist Geschmack eine ernstzunehmende Größe in der Architektur?
Ja, nur gibt es ein Wort, das mich stört, denn über Geschmack kann man streiten. Das gilt für die Ästhetik nicht.
Das heißt die Ästhetik entzieht sich der Geschmacksdiskussion?
Zumindest der banalen Geschmacksdiskussion. Denn man muss viel wissen, um Architektur beurteilen zu können. Da muss man sehr viel über die Soziologie der Gesellschaft, in der man ist, wissen. Da muss man wissen, wo die Grenzen sind, die die Form eines Gebäudes erweitert. Das ist ja auch ein Merkmal guter Architektur, dass sie nicht nur den Inhalt, sondern auch die Grenzen der Ästhetik neu definiert. Deshalb mag ich ja viele Gebäude nicht, die so verehrt werden. Sie sind ein Rückblick und kein Vorausblick. Und wenn man dauernd zurückblickt, bleibt man stehen und schreitet nicht voran. Gegen Fortschritt habe ich überhaupt nichts. Fortschreiten heißt, lebendig zu sein und zu leben. Wenn ich stehen bleibe, bin ich tot.
Ist das sozusagen auch der „künstlerische Aspekt“?
Ja, das ist es, was Architektur auch zur Kunst macht.
Könnte man dann sagen, dass ein Architekt auch Künstler sein muss?
Richtig. Und wenn ein Architekt von Kunst – also von der temporären Kunst – keine Ahnung hat, dann ist er ein Zurückblickender. Die „Metaebene zu erreichen“ gelingt, weil man gut ausgebildet ist, weil man sich interessiert und weil man als junger Architekt einen Weg einschlägt, der sich vom herkömmlichen Baugewerbe unterscheidet. Das sind Voraussetzungen, die dann in jeden Entwurf einfließen. Ich würde sagen, dass ich fast mehr in Kunstausstellungen bin oder hier in Österreich mit mehr Künstlern befreundet bin als mit Architekten. Weil die Künstler interessantere Thesen aufstellen als die Architekten, die dauernd über die Baukosten reden. Das ist sicher ein wichtiger Teil, aber vorrauseilenden Gehorsam darf sich ein Künstler nicht erlauben.
Gibt es da auch Parallelen zur Bäckerei?
Da höre ich Herrn Augendopler immer gerne zu, wenn er über die Entwicklung der Bäckerei erzählt und wie sie sich ständig verändert. Das Brot aus der „guten alten Zeit“ würde heute kein Mensch mehr essen, betont er immer wieder. Entwicklung hat immer mit Veränderung und Kreativität zu tun. Das ist in jedem Beruf so. Nicht nur Architekten und Bäcker müssen kreativ sein, auch ein Rechtsanwalt. Gute Handwerker sind „super-kreativ“. Sie stehen häufig vor Problemen, die vorher nicht bedacht werden können, weil nur das 1:1 Handwerkliche dann die Lösung bringt, die auf der Baustelle entsteht.
Haben Sie sich in Ihrer Schaffensgeschichte schon einmal näher mit dem Thema Brot auseinander gesetzt?
Nein, aber ein Freund von mir – der schon verstorbene Hans Hollein – machte vor langer Zeit eine Ausstellung über Brot. Wie das mit der Entwicklung der Kultur zusammenhängt, hat mich damals sehr beeindruckt. Er hat mir als Studenten damals gezeigt, dass Architektur nicht nur Gebäude sind, sondern dass sich ein guter Architekt auch mit den Hintergründen auseinandersetzen muss. Eine Brotfabrik zu bauen ist einfacher als das PANEUM.
Hat sich durch Ihre Arbeit am PANEUM Ihre Sicht auf Brot verändert?
Ja, ich esse seither unheimlich gerne Kornspitz. Also wirklich ganz im Ernst, meine Verwandten in Deutschland können das überhaupt nicht nachvollziehen, aber die ganze Familie isst Kornspitz. Einen Kornspitz mit Butter zum Frühstück mag ich sehr gerne. Der Duft von Brot ist schon gut. Ich habe früher auch ein bisschen gebacken, also mir ist das nicht fremd. Obwohl ich kein Koch bin.
Aber Sie essen gerne?
Ja, aber ich esse gerne wenig.
Sie genießen …
Eigentlich ja.
Genießen beim Essen, Sie genießen Architektur, genussvoller geht es nicht mehr ...
Das klingt jetzt so nach Bequemlichkeit, das bin ich nicht. Bequem oder geduldig bin ich nicht.
Aber Genuss ist ja auch etwas Aktives, oder?
Ja, zum Beispiel ein Restaurant mit gutem Essen und einem guten Wein.
Was ist Ihre Lieblingsspeise, falls es so etwas gibt?
Rindfleisch mit Dillsauce, so wie sie meine Mutter und Großmutter gemacht haben. Die gibt es kaum mehr.
Und haben Sie so etwas wie ein Lieblingsbauwerk?
Alle unsere, das muss ich jetzt sagen. Dann kommt natürlich „La Tourette“ von Le Corbusier. Das war der Anstoß, dass ich Architekt geworden bin. Mein Vater war auch Architekt und da habe ich ihm schon als Kind im Büro über die Schulter geblickt. Aber erst als ich zu den Bauten von Le Corbusier nach Frankreich gefahren bin, war mir klar: Wenn das Architektur ist, dann werde ich Architekt.
Das Interview führte Jürgen Reimann, Leiter Kommunikation PANEUM – Wunderkammer des Brotes
Wolf D. Prix, 1942 in Wien geboren, ist Design Principal und CEO von COOP HIMMELB(L)AU. Er studierte Architektur an der Technischen Universität Wien, an der Architectural Association in London und am Southern California Institute of Architecture (SCI-Arc) in Los Angeles. Wolf D. Prix zählt zu den Erfindern der Architekturrichtung des Dekonstruktivismus. Die Einladung zur Ausstellung „Deconstructivist Architecture“ im MoMA New York im Jahr 1988 bedeutete den internationalen Durchbruch für COOP HIMMELB(L)AU. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden Wolf D. Prix und Team mit zahlreichen internationalen Architekturpreisen ausgezeichnet.
COOP HIMMELB(L)AU wurde 1968 in Wien gegründet und arbeitet seither unter der Leitung von Wolf D. Prix als CEO und Design Principal in den Bereichen Architektur, Stadtplanung, Design und Kunst. 1988 wurde ein weiteres Atelier in Los Angeles, USA, eröffnet. Das Team von COOP HIMMELB(L)AU hat in zahlreichen Ländern Museen, Konzerthäuser, Forschungs- und Verwaltungsgebäude sowie Wohnbauten realisiert und arbeitet zurzeit an Projekten in Europa, Asien und dem Mittleren Osten.
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